Halle Transit

6. April 2018


Als wir alle im Car sitzen informiert uns Simon, dass in der Nacht versucht worden war, in den Bus einzubrechen. Da nichts gestohlen wurde, fahren wir los. Über Leipzig Mitte gelangen wir auf die A 14. Obwohl wir uns in einer Grossstadt befinden, gibt es nach neun Uhr wenig Verkehr, sowohl stadteinwärts als auch -auswärts. Gewerbeparks und Landwirtschaft wechseln sich ab. Linkerhand folgt bald einmal das Güterverkehrszentrum Leipzig und das Porsche-Werk, doch der vor uns liegende Flughafen weckt mehr Interesse, zumal die Autobahn mitten hindurch führt. Zur Linken, im Anschluss an das Porsche-Werk befinden sich die Fingerdocks an denen einzelne Passagierflieger stehen. Zur Rechten sieht es eher nach dem Gewerbeflughafen aus. Autotransporter mit VW-Modellen darauf parkieren am Pistenrand. Die Hauptaufmerksamkeit ziehen aber die zwei weissen Antonow AN-124-100 der Wolga-Dnjepr Airline mit ihrem blauen Streifen auf sich. Bei der ersten Maschine ist das äussere linke Triebwerk demontiert. Beim Redigieren des Eintrages ein paar Wochen später werde ich bei Wikipedia lesen, dass die Typenbezeichnung 100 auf die Herstellung nach dem Ende der Sowjetunion hinweist, fünf Flugzeuge wurden von 2001-2004 produziert, zwei davon stehen hier in Leipzig, wo die Wolga-Dnjepr Airline ein Wartungswerk für ihre Antonows betreibt.

Wir fahren weiter, den von Westen her landenden Flugzeugen entgegen. Auch hier herrscht weniger Betrieb als in Zürich. Nach dem Flughafen kreuzen wir das Schkeuditzer Kreuz, danach haben wir das Ende Welt erreicht: flaches Land, soweit das Auge reicht, einzig aufgelockert durch die gefühlt unzähligen Windkraftanlagen. Schon bald zeigt ein Schild am Strassenrand an, dass wir uns nun in Sachsen-Anhalt befinden. Die Landschaft ändert sich kaum, Ackerland und Weiden, manchmal zieht ein Dorf mit geduckten Häusern vor dem Fenster vorbei. Irgendwann weist die zunehmende Siedlungsdichte auf die nächste grössere Stadt hin: Halle an der Saale. Von hier kenne ich nur den Bahnhof, den ich wie die wenigen Häuser der Stadt, die ich 1995 gesehen habe, als grau und hässlich in Erinnerung habe. Im Bahnhof musste jeweils unser Zug, von Eisenach/Erfurt bzw. Leipzig kommend, warten. Wie in Weimar oder Eisenach ist der Bahnhof neben der Stadt gebaut, sodass man von der Ortschaft kaum etwas gesehen hat. Neben den grauen, zum Teil verfallenen Gebäuden neben den Geleisen sind mir das zwischen den Geleisen wachsende Unkraut, schmuddelige, versprayte Doppelstockwagen jüngeren Datums und ebensolches Rollmaterial aus der DDR in Erinnerung geblieben. Ebenso die vielen Graffitis an den Wänden und Pfeilern. Der Aufschwung Ost war damals noch nicht in Halle angekommen, ein weiterer Besuch etwas, was man sich mit gutem Gewissen hat sparen können.

Bei der Abfahrt Halle/Peissen zweigt Simon auf die Bundesstrasse 100 in Richtung Stadtzentrum ab. In was für einer anderen Aufmachung präsentiert sich doch die Stadt heute: Im morgendlichen Sonnenlicht herausgeputzt, bunte Fassaden, saubere Strassen, viele Grünflächen. Via Paracelsus- und Volkmannstrasse erreichen wir die Bundesstrasse 80. Simon nimmt wieder Kurs nach Westen, wir fahren auf dieser brutalen Asphaltschneise und städtebaulichen Sünde, die der Zürcher Westtangente in nichts nachsteht, quer durch die malerische Innenstadt, linkerhand die südliche Innenstadt, rechts die Altstadt Mitte. Von der Ferne grüsst der Leipziger Turm. Es folgen links ein Krankenhaus, rechts die Moritzkirche. Ich beginne es zu bedauern, dass Halle schon wieder nur Transitort ist – zumal ich langsam einen Kaffee nötig habe und es hier ein Beatles-Museum gibt.

Doch die Fahrt geht unvermittelt weiter, über die Saale und auf der Eislebener Chaussee an der Neustadt vorbei. Umringt von einem Grüngürtel sieht man gelbrote Blockrandbauten. Vielleicht waren es Plattenbauten, heute sind sie renoviert und frisch gestrichen. Man sieht Teiche, dann wieder Gewerbegebiete und fünfgeschossige Flachdach-Wohnblöcke mit Umschwung. Die Idee der Gartenstadt wurde hier umgesetzt. Halle Neustadt strahlt – wohl zumindest heutzutage – nicht mehr die kommunistische-Ödnis aus, da haben wir vor einem halben Jahr in Tschechien noch Ortschaften gesehen, in denen die Zeit in den 1980er-Jahren stehen geblieben war. Zumindest von der Umfahrungsstrasse her wirkt hier das über Jahre gewachsene Verhältnis zwischen Siedlung und Grünraum ausgewogen, weswegen Ödnis das falsche Wort ist. Die bunten Häuser und die grossen Grünflächen zeugen von hoher Lebensqualität, zumal die sonst üblichen Einkaufszentren und Grossgaragen, die die Agglomeration einer Stadt säumen, fehlen, obwohl das nachfolgende Gebiet alles andere sehenswert ist. Automatisch frage ich mich, wo ich in der Schweiz ähnliches gesehen habe: Die westliche Stadtausfahrt von Halle erinnert an die östliche Stadteinfahrt von Aarau über das Telli-Quartier. Ödnis ist definitiv der falsche Ausdruck, Agglomerationstristesse passender.

Danach wieder Überlandfahrt. Feld folgt wieder auf Feld, dann und wann eine Ortschaft. Auf einmal sind wir doch noch zurück in der DDR: Das riesige Braunkohle-Bergwerk Amsdorf mit Schutthügel und Baggerseen prägt zur Linken die Landschaft, wo noch heute im Tagebau gearbeitet wird. Es fällt mir nun auf, die um Leipzig dominanten Windkraftanlagen sind beinahe verschwunden. Ich werde gefragt, wie die Abraumhalde vor Eisenach geheissen hat: Kalimandscharo, diese hier ist kein Vergleich dazu, das ist höchstens ein Hügel. Die Strasse führt in diesem flachen Land in ein Tal. Zunächst rechts, dann links je ein kleiner See. Die Bodenfarbe ändert sich, anstelle von Feldern fahren wir nun an Obstplantagen vorbei. Ich tippe auf Äpfel, zumindest erinnern mich die noch kahlen Bäume daran, doch dann gibt es Schilder, dass es zur passenden Jahreszeit frische Aprikosen zu kaufen gäbe. An einer Verzweigung das Hinweisschild zum Restaurant Orangerie Seeburg, an den Hängen wachsen Reben. Auf dem Süssen See ruhen eingepackte Segelschiffe dem Sommer entgegen, auch in den Seerestaurants ist noch wenig Betrieb.

Dem Süssen See entlang, nähern wir uns Eisleben, die gewohnte Suburbia begrüsst uns, am Horizont jedoch mahnen zwei der drei Mansfelder Pyramiden an acht Jahrhunderte Bergbau. Wir scheinen das Niemandsland verlassen zu haben und bewegen uns auf historisch bewegtem Gebiet.

leipzig airport antonow 2018
Die Antonow AN-124-400 auf dem Flughafen Leipzig, gesehen aus dem Reisecar von der Autobahn aus.

 

frühere Beiträge:
von Luther in Erfurt zu Goethe in Leipzig – 5. April
Teufelserscheinung – 4. April
in der lieben Stadt – 4. April


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wenig Leben in Eisleben – 6. April
mein Leipzig lob ich mir – 6. April
Leipzig – 6. April




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